Studium EKIW ®

Lichtblick Nr. 10 (November 2005)

Die geheime Mauer

Kenneth Wapnick

Einleitung: Der Ort der Wahrheit

Es ist ein Ort in dir, an dem die ganze Welt vergessen ist, an dem keine Erinnerung an Sünde und an Illusion immer noch verweilt. Es ist ein Ort in dir, den die Zeit verlassen hat und wo der Widerhall der Ewigkeit zu hören ist. Da ist ein Ruheplatz, der derart still ist, dass kein Laut außer ein Lobgesang zum Himmel aufsteigt, um Gott den Vater und den Sohn froh zu machen. Wo beide wohnen, da ist die Erinnerung an beide. Und wo sie sind, da ist der Himmel und ist Frieden (T-29.V.1).

Das ist die wirkliche Welt, der Ort in unserem Geist, an dem wir nur einen Augenblick lang verweilen (T-11.VIII.1:5-7), bevor Gott sich herabneigt und uns zu sich selbst emporhebt (T-11.VIII.15:5). Es ist der Ort der Wahrheit innerhalb der Illusion:

An jenem Ort, den du verborgen hast, willst du nichts anderes als dich mit dem Vater in liebevoller Erinnerung an ihn vereinen … Suche nur diesen Ort, und du wirst ihn finden, denn die Liebe ist in dir und wird dich dorthin führen (T-13.III.8:3; 12:10).

Dieser Artikel beschäftigt sich damit, wie Gottes Liebe uns an diesen verborgenen Ort führt, der bereits in unserem Geist liegt, indem sie die geheime Mauer des Ego beseitigt, die den Weg zum Licht versperrt und den Sohn Gottes in der Dunkelheit hält.

Die Mauer

Der finsterste deiner verborgenen Ecksteine hält deinen Glauben an die Schuld aus deinem Bewusstsein fern. An diesem finsteren und geheimen Ort liegt nämlich die Einsicht, dass du Gottes Sohn verraten hast, indem du ihn zum Tod verurteilt hast … Denn ein verdunkelter Geist kann nicht im Lichte leben; er muss sich einen Ort der Dunkelheit suchen, an dem er glauben kann, er sei, wo er nicht ist … eingehüllt in Schuld und in der dunklen Verleugnung der Unschuld (T-13.II.3:1-2; T-13.III.11:5; T-14.VIII.1:2).

Die Mauer erhält das getrennte Egoselbst aufrecht, das wir als verletzlich und bedroht wahrnehmen. Fast alle Menschen haben Erinnerungen an sehr schmerzhafte Situationen in der Kindheit, zum Teil sogar der frühen Kindheit, in denen sie ausgeschimpft, gedemütigt, zurückgewiesen – und am allerschlimmsten – nicht geliebt und umsorgt wurden. Es ist nur ein kleiner Schritt oder Sprung von diesen Erinnerungen zu der etwas vereinfachten Schlussfolgerung, dass die Gefühle von Sorge und Angst, die wir als Erwachsene haben, sich auf diese frühen Jahre zurückführen lassen. Im engen Rahmen unserer menschlichen Erfahrung scheint das zweifellos der Fall zu sein. Wir halten uns für Mitglieder der Spezies Homo sapiens, während wir in Wirklichkeit Gedanken in einem nichtzeitlichen und nichträumlichen gespaltenen Geist der Sünde oder Unschuld, Schuld oder Liebe sind. Das unschuldige Selbst kennt keine Mauern, die die freie Ausdehnung der Liebe behindern. Doch diese sind ein inhärenter Bestandteil des Selbst, das von Gedanken der Sünde und Schuld besetzt und aus einem Selbstbild der Minderwertigkeit und des Bösen hervorgegangen ist. Das ist das Selbst, das sich in der Welt ein Zuhause bereitet hat und mithilfe von Abwehrmauern überlebt, die das hasserfüllte Selbst im Geist vom Bewusstsein fern und die in die Welt projizierten Hass-Selbste in Schach halten.

Wir legen den Schwur ab, diese Festung niemals aufzugeben. Unsere Angriffsgedanken – gegen uns selbst (Schuld) und andere (Urteile) – halten die Mauer intakt. Wir haben entsetzliche Angst, dass durch die Vergebung auch nur einige Mauersteine locker werden könnten, denn dann bricht das Ganze zusammen und lässt uns verletzlich und hilflos zurück »in der Gewalt von Dingen jenseits von dir, von Kräften, die du nicht kontrollieren kannst« (T-19.IV-D.7:4). Wir halten unser schuldiges Selbst hinter besonderen Beziehungen verborgen, und solange es einen Menschen gibt, dem wir Vergebung vorenthalten, sind wir in Sicherheit, denn es braucht nur einen, um unser getrenntes Selbst sicherzustellen.

Es gibt niemanden auf Erden, der nicht eine solche Mauer errichtet hätte und gleichermaßen zu seinen Freunden, seinen Feinden und letztlich auch zu Gott sagt: »Du darfst hier nicht eintreten.«

Wie können wir also jemals über die Mauer zum Ort der Liebe gelangen, der hinter dem hasserfüllten Ort im Geist verborgen liegt, welcher seinerseits von der Mauer eines besonderen Körpers geschützt wird?

Über die Mauer hinausgelangen –
mit dem Heiligen Geist schauen

Des Heiligen Geistes Funktion ist ganz und gar Kommunikation. Er muss deshalb alles entfernen, was die Kommunikation stört, um sie wiederherzustellen. Verbirg darum keine Störquelle vor seiner Sicht, denn er wird deine Wächter nicht angreifen. Bringe sie vielmehr zu ihm, und lass seine Sanftheit dich lehren, dass sie im Licht nicht Angst erregend sind und nicht dazu dienen können, die dunklen Türen zu bewachen, hinter denen überhaupt nichts sorgfältig verborgen wird. Wir müssen alle Türen öffnen und das Licht hereinströmen lassen (T-14.VI.8:1-5).

An irgendeinem Punkt wird die bittere Einsamkeit des Lebens hinter der Mauer – unser kleines Reich der Angst und des Hasses – unerträglich, denn wie lange können wir die schmerzhafte Gesellschaft von Schuld, Einsamkeit und Verzweiflung ertragen? Der damit einhergehende Schmerz ist qualvoll und öde:

In deinem winzig kleinen Reich hast du so wenig! … Schau dir die Wüste an, trocken und unfruchtbar, versengt und freudlos, die dein kleines Reich ausmacht (T-18.VIII.8:4,6).

Wenn uns die Dunkelheit der Angst anwidert, führt das schließlich dazu, dass wir ihre Wirklichkeit infrage stellen, und das ist die einzige Öffnung, die notwendig ist, damit die Liebe des Heiligen Geistes eintreten kann.

Sobald wir uns auf den Prozess einlassen, den Heiligen Geist um Hilfe zu bitten, werden wir gebeten, diese duale Identität eines verletzlichen Körpers und schuldigen Geistes infrage zu stellen, in der sich der doppelte Schutzschild des Vergessens äußert (Ü-I.136.5:2), den das Ego errichtet hat. Deshalb löst der Entschluss, die Mauer anzuschauen, solch heftigen Widerstand aus und bedarf einer beharrlichen und hingebungsvollen Bemühung. Es nimmt Zeit in Anspruch, die Identifikation mit unserem körperlichen Selbst loszulassen und uns stattdessen mit dem Entscheider zu identifizieren, dem Teil unseres Geistes, der dieses Selbst gewählt hat, zusammen mit seiner Abwehr. Deshalb ist das urteilslose Anschauen des Ego so entscheidend. Auf diese Weise setzen wir allmählich den Prozess in Gang, uns von unserem Ego zu lösen. Nur die Angst, das besondere Selbst zu verlieren, verzögert diesen Prozess.

Der Weg zum Himmel führt durch die Hölle, und das bedeutet, unsere Mauern anzuschauen wie auch das Selbst, das wir hinter ihnen schützen wollen. Wir können das Ego nicht loslassen, ohne es anzuschauen. Das Ego verteidigt sich, indem es wie die Medusa mit ihrem giftigen Schlangenhaupt sagt: »Wenn du mich anschaust, wirst du vernichtet.« Somit beinhaltet der Prozess zwangsläufig, dass wir die Stimme des Untergangs vernehmen: »Wenn ich schaue, wird etwas Furchtbares geschehen, weil ich solch ein furchtbarer Mensch bin.« Schuld und entsetzliche Angst liegen im Geist immer Seite an Seite, gut verteidigt von der geheimen Mauer. Doch wenn die Mauer zusammenbricht, kommt der Schmerz des sündigen Selbst zum Vorschein, während uns die Angst des Ego vor der Auflösung bewusst wird. Jesus deutet auf diesen Ort der Angst hin, zu dem Gottes Liebe uns führt, wenn wir unserem Lehrer erlauben, unsere Hand zu nehmen:

Gott aber kann dich dorthin bringen, wenn du willens bist, dem Heiligen Geist durch scheinbare Schrecken nachzufolgen im Vertrauen darauf, dass er dich nicht im Stich und dort zurücklässt … Du bist ernstlich versucht, ihn am äußeren Ring der Angst zu verlassen, er aber möchte dich sicher dort hindurch und weit darüber hinaus führen (T-18.IX.3:7,9).

Doch wir zögern, denn unsere »Freunde« der Trennung und des Urteils hinter uns zu lassen bedeutet, unser Selbst hinter uns zu lassen.

Jetzt stehst du in Angst und Schrecken vor dem, was du geschworen hast nie anzuschauen. Deine Augen sind niedergeschlagen in Erinnerung an dein Versprechen, das du deinen »Freunden« gegeben hattest. Die »Schönheit« der Sünde, der feine Reiz der Schuld, das »heilige«, wächserne Bild des Todes und die Angst vor des Ego Rache, dem du mit deinem Blut geschworen hast, es nicht im Stich zu lassen, sie alle stehen auf und befehlen dir, deinen Blick nicht zu erheben. Denn dir wird klar, dass sie für immer fort sein werden, wenn du auf dies schaust und den Schleier lüften lässt. Alle deine »Freunde«, deine »Beschützer« und dein »Heim« werden schwinden. Und du wirst dich an nichts von dem erinnern, woran du jetzt noch dich erinnerst (T-19.IV-D.6).

Es ist hilfreich, die Versuche des Ego zu erkennen, diesen Prozess der Heilung unserer besonderen Beziehungen zu durchkreuzen. Im Kurs wird der Rat des Ego so beschrieben:

Nun rät das Ego Folgendes: Ersetze diese Beziehung durch eine andere, der dein früheres Ziel ganz angemessen war. Du kannst deiner Not nur dadurch entrinnen, dass du deinen Bruder los wirst (T-17.V.7:1-2).

Und im Übungsbuch wird hinzugefügt: »Eine andere [Form] lässt sich finden« (Ü-I.170.8:7). All dies muss rasch geschehen, denn die Bedrohung für das Ego ist unmittelbar schmerzhaft für all jene, die sich mit seinem Denksystem identifiziert haben. Wer kennt diesen Mechanismus nicht? Kaum haben wir eine schmerzhafte Beziehung oder Situation beendet, ist schon die nächste da; manchmal noch am selben Tag. Der Schmerz, die Mauer zu verlieren, ist unerträglich.

Den Schmerz zuzulassen und ihn zu fühlen ist jedoch gut in dem Sinne, dass es die Art und Weise ist, zur Liebe dahinter zu gelangen. Davon sprach Krishnamurti, als er seine Schüler eindringlich bat, »beim Schmerz zu verharren«, womit er sagen wollte, dass sie durch das Verharren beim Schmerz herausfinden würden, dass Schmerz letztlich ein Gedanke ist, durch den die Liebe abgewehrt wird. Mit anderen Worten: Körperlicher Schmerz ist eine Abwehr gegen den Gedanken des Schmerzes, der seinerseits eine Abwehr gegen die Liebe bildet.

Deshalb schildert Jesus den Prozess der heiligen Beziehung als »gestört, disparat und ziemlich qualvoll « (T-17.V.3:3), und vier der sechs Stadien in der Entwicklung von Vertrauen werden als schmerzhaft, schwierig, konfliktbeladen und erschütternd beschrieben (H-4.I.3-8). Wenn er zu uns sagt: »Das ist die Zeit für den Glauben« (T-17.V.6:1), deutet er damit nicht auf einen magischen Gott oder älteren Bruder hin, der unsere Welt in Ordnung bringen wird, sondern auf die im Geist liegende Vergebung. In der Tat erklärt er uns, dass es wichtig ist zu begreifen, dass die besondere Beziehung ein großes Maß an Schmerz beinhaltet (T-16.V.1:1) – den Schmerz der Verletzung, den wir hinter unseren Mauern der Verleugnung und Projektion verborgen haben und nicht sehen wollen. Wir können eine Sache nur dann ändern, wenn wir sie anschauen, und der Weg zum verborgenen Ort der Liebe beinhaltet, dass wir einen Blick hinter die geheime Mauer werfen, hinter der sich der geheime Ort der Schuld verbirgt. Wir können eine Schuld, von der wir nichts wissen, nicht ändern, und hinter ihr steht die fehlerhafte Überzeugung, dass wir den Himmel vernichtet haben. Das sind außerordentlich schmerzbesetzte Gedanken – nicht im abstrakten oder intellektuellen Sinne, sondern in unserer Erfahrung. Unsere Existenz selbst gründet auf dem »Fakt«, dass wir nicht nur etwas Sündiges getan haben, sondern in allen Fasern unseres Seins selbst sündig und schuldig sind.

Magische Erlösergestalten – im Christentum ist es Jesus – sind so beliebt, weil sie für uns die Arbeit erledigen. Das traditionelle christliche Erlösungsverständnis ist die stellvertretende Erlösung: Jesus hat uns durch sein Leiden und seinen Tod befreit. Deshalb steht am Anfang des Abschnitts »Die Angst vor der Erlösung« der folgende wichtige Satz:

Du fragst dich vielleicht, warum es so entscheidend ist, dass du dir deinen Hass ansiehst und dir sein volles Ausmaß klar machst. Auch denkst du vielleicht, dass es für den Heiligen Geist leicht genug wäre, ihn dir zu zeigen und ihn aufzulösen, ohne dass es nötig wäre, dass du ihn dir selber ins Bewusstsein hebst (T-13.III.1:1-2).

Es tut weh, unseren Hass anzuschauen, weil er die Quelle der Sünde bildet, und wir würden ihn lieber dem Heiligen Geist »übergeben«, damit wir ihn nicht selbst anschauen müssen. Jesus kann unseren Hass nicht von uns nehmen, denn wir weigern uns, ihn loszulassen, und deshalb müssen wir unseren Widerstand überwinden und ihm den Hass bringen. Das ist damit gemeint, ihn anzuschauen, weshalb es oft den Anschein hat, als ob alles nur noch schlimmer würde. Es war schon immer schlimm; wir haben es nur nicht bemerkt. Sobald wir den Schleier wegziehen und das Ego mit Jesus anschauen, erkennen wir, was für eine furchtbare Selbsteinschätzung wir hatten. Im Übungsbuch heißt es: »Du denkst, du seist das Heim des Bösen, der Dunkelheit und Sünde « (Ü-I.93.1:1). Der Schmerz des Schauens veranlasst uns jedoch dazu, die Schuld zu projizieren, damit wir sie in anderen sehen und angreifen können und niemals selbst spüren müssen.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass wir die Mauer erst dann als schmerzhaft empfinden, wenn wir beginnen, ihren Zweck zu verstehen. Es gibt eine Wunde der Einsamkeit und Traurigkeit in uns allen, die daher rührt, dass wir meinen, wir seien von zu Hause weggelaufen. Der Glaube, wir hätten den Himmel verlassen und uns gegen die Liebe Gottes entschieden, bildet die Quelle des Schmerzes, den wir versucht haben hinter der Mauer zu verbarrikadieren, um ihn nicht zu spüren. Die Projektion rettet uns, da wir andere für unseren Schmerz anklagen. Doch die Projektion, die er in Gang setzt, ist ebenso unwahr wie das, was sie schützt – denn wir haben den Himmel nur in unseren Träumen verlassen. Wir bleiben »in Gott zu Hause und träumen von der Verbannung« (T-10.I.2:1). Überdies ist Projektion eine Illusion, weil Ideen ihre Quelle nicht verlassen. Was den Geist zu verlassen scheint, bleibt in Wirklichkeit in ihm, wenn auch verborgen vor der Sicht. Da die Schuld, die wir projizieren, eine Illusion ist, muss auch das Resultat der Projektion eine Illusion sein. Heilung ist unausweichlich, wenn wir erkennen, dass wir nur eine Illusion der Trennung projizieren. Dann sind wir in einem Zustand, in dem wir nichts in der Welt ernst nehmen, weil wir dessen Unwirklichkeit erkennen. Auf einer praktischen Ebene bedeutet das, dass die Welt keine Wirkung auf uns hat, weil sie keine Macht hat, uns den Frieden Gottes zu rauben. Das heißt nicht, dass wir ignorieren oder verleugnen, was mit dem Körper passiert; nur geben wir diesen Geschehnissen keine Macht, die Liebe in unserem Geist zu zerstören.

Anfangs machen wir also die Erfahrung, dass die Welt uns beeinflusst, doch wir lernen zunehmend, dass sie den Körper beeinflusst, der nicht unsere Identität ist. Das ist ein zentraler Gedanke, denn es bedeutet, dass wir Geist sind. Nur mit dieser Einsicht können wir unberührt von der Welt bleiben, die uns ausschließlich dann berührt, wenn wir ihr die Macht dazu geben. Das heißt: Das Problem sind nicht die anderen und ist auch nicht, was sie getan haben. Schülern des Kurses ist die Lektion am Anfang des Übungsbuchs: »Ich rege mich niemals aus dem Grund auf, den ich meine« (Ü-I.5) gut vertraut. Sie bildet die Grundlage der Vergebung: den Grund dafür, dass wir anderen vergeben, was sie uns nicht angetan haben. Ein anderer hat uns vielleicht angegriffen, aber er hat unserem Geist nichts angetan. Deshalb bedeutet Schauen, dass wir die Dunkelheit – den Ärger, das Urteil, die Besonderheit –, die wir nach außen projiziert haben, nach innen holen. Wir lernen, dass es unsere Dunkelheit ist, mit der wir unser Selbst fest umgeben und die wir hätscheln, weil sie das Licht der Liebe abschirmt, das für unser Selbst so bedrohlich ist. Indem wir unsere projizierten Flecke der Dunkelheit vergeben, erlauben wir dem Licht in unserem Geist, sich durch die Sohnschaft auszudehnen. Wir hören den Hilferuf eines jeden, denn wir haben den ruhigen Ort der Liebe gesucht und gefunden:

Schließe schweigend deine Augen vor der Welt, die die Vergebung nicht versteht, und suche Zuflucht an dem stillen Ort, wo die Gedanken verändert und falsche Überzeugungen abgelegt werden (Ü-126.10:1).

Den Ruf der Angst hören

Der Gedanke Gottes umgibt dein kleines Reich und wartet an der von dir gebauten Schranke, um hereinzukommen und auf den unfruchtbaren Boden zu leuchten. Sieh, wie das Leben überall aufkeimt! Die Wüste wird zu einem Garten, grün, tief und still, und bietet denen Rast an, die den Weg verloren haben und im Staube irren. Gib ihnen einen Ort der Zuflucht, durch die Liebe dort für sie bereitet, wo einst Wüste war. Und jeder, den du willkommen heißt, wird vom Himmel Liebe für dich bringen … Und unter ihrer Mildtätigkeit wird sich dein kleiner Garten ausbreiten und bis zu jedem reichen, der nach lebendigem Wasser dürstet, aber zu müde geworden ist, um allein weiterzugehen (T.18.VIII.9:1-5,8).

Jeder ist ein ängstliches Kind, das geliebt werden will und »zu müde geworden ist, um allein weiterzugehen «. Jeder. Den universellen Zustand des Schmerzes und der Entfremdung bringt Jesus in der folgenden ergreifenden Stelle aus dem Übungsbuch zum Ausdruck:

Diese Welt, in der du zu leben scheinst, ist nicht dein Zuhause. Und irgendwo in deinem Geist erkennst du, dass das wahr ist. Eine Erinnerung an Zuhause hört nicht auf, dich heimzusuchen, als gebe es einen Ort, der dich zur Rückkehr riefe, obschon du weder die Stimme wiedererkennst noch woran die Stimme dich erinnert. Und dennoch fühlst du dich hier wie ein Fremder von wer weiß woher. Es ist nichts Eindeutiges, sodass du mit Bestimmtheit sagen könntest, dass du hier ein Verbannter bist. Da ist nur ein beharrliches Gefühl, manchmal nicht mehr als ein winzig kleines Pochen, zu anderen Zeiten kaum erinnert und aktiv abgetan, das aber sicherlich dir wieder in den Sinn kommt (Ü-I.182.1).

Wenn wir wahrnehmen könnten, dass die einzige Sehnsucht von Menschen darin besteht, nach Hause zur Liebe zurückzukehren – ganz gleich, was sie sagen oder tun –, würden wir das verletzte Kind in ihnen sehen und könnten gar nicht anders, als ihrer Sehnsucht mit liebevollem Trost zu begegnen.

Das ängstliche, einsame Kind sehen heißt, dass wir zulassen, den Schmerz hinter den Angriffen der Menschen wahrzunehmen. Ganz gleich, wie bösartig und grausam das Verhalten ist, darunter liegt dennoch Leiden. Menschen würden nicht angreifen, wenn sie nicht leiden würden. Ganz gleich, wie hasserfüllt diejenigen sind, über die wir urteilen, sie würden sich nicht so verhalten, reden oder denken, wenn sie nicht von dem qualvollen Schmerz eines kleinen Kindes erfüllt wären, das glaubt, es sei der Liebe beraubt und allein und ohne Hoffnung im Universum zurückgeblieben.

Wie es ein liebevoller und mitfühlender Erwachsener mit einem Kind täte, geben wir anderen auf eine der Situation angemessene Art die beruhigende Botschaft, dass alles in Ordnung ist, sobald wir den Schmerz der Entfremdung in ihnen hören. Wenn wir den Klageruf des Kindes nach Liebe nicht hören und ein böses Ungeheuer statt eines unschuldigen Kindes sehen, liegt es einzig und allein daran, dass wir ihn in uns selbst nicht hören wollen. Man könnte daher sagen, dass das Ziel des Kurses darin besteht, hinter den Abwehrmauern den Schmerz in allen Menschen zu vernehmen – in Opfern und Tätern, uns und anderen. Dann hätten wir Erbarmen mit allen und würden sie dort berühren, wo sie verletzt sind, denn Heilung ist für alle gleichermaßen liebevoll und freundlich. Mauern sind Abwehrmechanismen, und ohne sie kehrt die Liebe ein. Tatsächlich ist die Liebe bereits da, und ohne unsere Mauern dehnt sie sich ganz natürlich zu jedem aus.

Das heißt nicht, dass man auf der gesellschaftlichen Ebene Fehlverhalten und Aggression duldet. Man kann beispielsweise nicht zulassen, dass Menschen rote Ampeln überfahren, geschweige denn Morde oder Vergewaltigungen begehen. Doch ist es möglich, jemanden daran zu hindern, mörderisch, selbstmörderisch oder anderswie destruktiv zu handeln, ohne dabei eine strafende Absicht zu verfolgen. Es ist möglich, Einschränkungen und Grenzen ohne Wut oder Rache aufzuerlegen. Auf der Ebene der Form könnten die Handlungen dieselben sein, ganz gleich, ob man wütend oder liebevoll ist, aber der Inhalt ist ein anderer. Der Betreffende weiß auf irgendeiner Ebene, dass die ihm gesetzte Grenze notwendig ist; er hört hinter dem Handeln jedoch die Liebe oder die Wut, die der wahre Lehrmeister ist. Da der Geist aller miteinander verbunden ist, reagieren wir nur auf den Inhalt des Geistes.

In unserem falschgesinnten Geist sind wir bestrebt, die Mauern der Besonderheit, des Urteils und Hasses zu schützen, weil wir wahnsinnigerweise glauben, das schütze uns vor der Liebe. Unsere Angst verlangt nach der Mauer; wir vergessen, dass wir sie errichtet haben, und sind uns nur der schrecklichen Dinge bewusst, die andere uns angetan haben. So fahren wir fort, die Mauer zu projizieren, nicht die Mauer, die uns von unserem Selbst trennt (das Selbst vom Selbst), sondern die Mauer, die unser Selbst gegen die bösen, sündigen Selbste draußen schützt, vor denen wir immer auf der Hut sind. Wie also könnte die Liebe freundlich sein? Wie könnte sie eins sein? Wie könnte sie wahr sein? Nehmen wir in unserem rechtgesinnten Geist jedoch das verletzte Kind wahr, strecken wir die Hände liebevoll durch die Mauer hindurch aus und berühren den Schmerz. Dann ist er vergangen. Die Verletzung eines anderen kann nur deshalb Heilung erfahren, weil wir die Heilung in uns selbst zugelassen haben. Das ist Jesu Schau der Vergebung: Heilung beginnt mit unserem Geist und dehnt sich dann durch die Mauern der Besonderheit zu anderen aus. Die Mauer wird nicht durchbrochen, sondern es findet ein »stilles Verschmelzen« statt, um mit der wunderbaren Formulierung aus dem Textbuch zu sprechen (T-18.VI.14:6). Wir berühren den Schmerz einfach sanft, und die Mauern des Ego verschwinden.

Deshalb beschreibt Jesus den Heiligen Geist als eine Instanz, die weder befiehlt noch überwältigt oder fordert: er erinnert bloß (T-5.II.7:1-8). Seine Liebe wird zu unserem Vorbild, das uns hilft, nichts von anderen zu fordern noch zu versuchen, sie zu überwältigen oder zu kontrollieren. Wir akzeptieren die Menschen einfach da, wo sie stehen, in dem Wissen, dass das, was sie aus Hass und Angst tun, letztlich nicht von Belang ist, weil die Liebe da ist. Unsere einzige Funktion ist daher, sie sanft an die Wahrheit zu erinnern, der zufolge die Trennung keine Wirkung auf die Liebe hatte. Denn die Liebe ist da.

Wir zeigen also, dass der Schmerz des anderen, worin er auch bestehen mag, keine Wirkung auf unsere Liebe hat, womit wir ein Beispiel geben für das Prinzip, dass das, was dem anderen angetan wurde, ebenfalls keine Wirkung auf die Liebe in ihm hatte. Wir richten unsere ganze Aufmerksamkeit darauf, diese Lektion zu lernen, von der Zeit des Erwachens am Morgen, bis wir abends schlafen gehen. Wir lernen, indem wir lehren, und lehren heißt aufzeigen, denn die einzige Lektion, die gelernt und gelehrt werden muss, ist, dass uns vergeben ist. In diesem heiligen Augenblick ist die Sohnschaft geheilt, denn wir sind eins. Deshalb ist es so entscheidend, die Vorstellung des Einsseins zu akzeptieren, was freudig geschieht, sobald wir erkennen, dass jeder dasselbe ist, denn darin spiegelt sich das Einssein des Himmels. Dieses kann man hier nicht lernen, aber wir können gelehrt werden, dass wir alle ein ängstliches Kind im Innern haben, das voller Schmerz und Verletzung weint und nur gehalten werden und gesagt bekommen möchte, dass nichts geschehen ist, was die Liebe verändern könnte: »Ganz gleich, was dir angetan wurde oder was du getan hast, du wirst immer noch geliebt.« Eine solche Vergebung, die die Liebe des Himmels widerspiegelt, ist unmöglich, solange wir die Mauer um uns herum aufrechterhalten.

Wir alle, als ein Sohn, leiden als eins, und wir haben unseren Schmerz zugemauert, um ihn zum Schweigen zu bringen. Wir fühlen uns schlecht, doch wir wissen nicht, warum. Der fürchterliche Schmerz des Alleinseins ist aus unserem Bewusstsein verschwunden, geschützt von unseren Abwehrmauern. Wenn wir den Kurs täglich studieren und üben, beginnen wir jedoch, das Ego zu verstehen, und indem wir es anschauen, werden seine Mauern allmählich schwächer und die Verletzung kommt ans Licht. Der Schmerz war schon immer da, nur wurde er durch die Mauer vom Bewusstsein ferngehalten. Wird er aufgedeckt und zum Licht der Vergebung gebracht, verschwindet die Dunkelheit des Schmerzes. Wenn wir diese Vergebung auch nur einen Augenblick lang erleben, tut es uns immer mehr weh, sie uns und anderen vorzuenthalten, was uns motiviert, uns wieder für sie zu entscheiden, ebenso rasch, wie wir uns gegen sie entschieden haben.

Der Höhepunkt der letzten Schau Jesu im Textbuch lautet: »Nicht einer Illusion wird Glauben mehr gewährt, und kein einzig Quäntchen Dunkelheit bleibt mehr zurück, um das Antlitz Christi vor irgendjemand zu verstecken« (T-31.VIII.12:5). Alles, was das Ego braucht, ist ein verdunkelter Fleck, der in einem anderen wahrgenommen wird, denn das schützt den Fleck der Sünde, von dem wir glauben, er sei in uns. Wenn wir jemanden von unserer Vergebung ausnehmen, nehmen wir uns selbst von dieser Vergebung aus. Wenn wir die Schwärze einer Schuld in anderen sehen, die niemals vergeben werden kann, dann, weil wir nicht unser inneres Licht sehen wollen, sondern einen dunklen Eckstein der Schuld, den wir durch die Projektion zu behalten versuchen. Wir weigern uns auf diese Weise, das verletzte Kind in anderen wahrzunehmen, und greifen deren Unschuld an, indem wir uns jedes Gramm davon selbst einverleiben. Erlauben wir uns jedoch, die Verletzung und den Schmerz in anderen zu sehen, haben wir Erbarmen mit ihnen. Während Jesu Liebe durch uns heilt und sich zu jedem ausdehnt, heilt sie auch uns selbst. Und wo sind die Mauern des Hasses, wenn die Liebe gekommen ist?

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